Wissenschaft, Design und die Hochschule für Gestaltung Ulm
Unaufhaltsam rinnt er das glatte Porzellan hinunter, trifft auf weißen Stoff und breitet sich darin aus: Der Tropfen aus der Kaffeekanne. Oder der Teekanne. Oder, nicht ganz so gut sichtbar, aber nicht minder fatal, aus dem Milchkännchen.
Ein Ärgernis für die Hausfrau — und ein Grund für den Designer, sich was einfallen zu lassen in puncto Tülle.

Was sagt die Wissenschaft?
Sicher ist es gut, zunächst mal wissenschaftliche Untersuchungen zu Rate zu ziehen. Gerade das war ja eine der wichtigen Neuerungen, die die Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) Ende der 1950er Jahre unter der Federführung von Tomás Maldonado in die Arbeit der Designer einbrachte.
Der Ingenieur Heinz Herwig behandelt in seinem Buch „Ach, so ist das“ thermofluiddynamische Alltagsphänomene, darunter auch tropfende Kannen:
Direkt nachdem der Strahl am Austritt unterbrochen wurde, fließt das in der Tülle verbliebene Fluid in die Kanne zurück, während der abgetrennte Rest nach außen weiterfließt. Dabei entscheidet sich nun, ob bei dieser Abtrennung, d. h. der endgültigen Strömungsablösung, Fluidreste am Tüllenaustritt haften bleiben, die sich dann unter der Wirkung der Fluidoberflächenspannung zu einzelnen Tropfen zusammenziehen und ggf. ihrerseits ablösen können.
Heinz Herwig
In dem Moment also, in dem wir die Kanne absetzen, „entscheidet sich“ ob sich der ein oder andere vorwitzige Tropfen bildet, der sich dann auf den Weg in Richtung Tischdecke macht. Und wie entscheidet sich das? Ganz einfach — das lässt sich mit dem Youngschen Kapillargesetz berechnen:
σFG cos Θ = σGW − σFW
Dabei stellt sich dann heraus, dass für das Tropfen oder Nicht-Tropfen weniger die Form als die Oberfläche der Tülle von Bedeutung ist. Je fester das Material ist und je besser es das Wasser abweist, umso eher wird die Flüssigkeit nach dem Abstellen der Kanne in deren Innerem verschwinden.
Das funktioniert allerdings nur, wenn die Tülle auch wirklich sauber und glatt ist.

Funktion und Form
Doch auch die Form der Tüllenöffnung spielt für ihre Funktion eine Rolle. Wenn sie vorne eine scharfe Abrisskante hat, hören Tee und Kaffee brav auf zu fließen, sobald wir die Kanne absetzen.
Dabei ist es allerdings wichtig, mit Schwung zu gießen und entschieden wieder damit aufhören. Eine unentschiedene Handhabung der Teekanne führt dagegen unweigerlich zu Flecken, wie die Forschung beweist:
Offensichtlich hängt das Strömungsmuster von der Geschwindigkeit ab. Mit Schwung einzugießen gelingt anfänglich, wenn die Tasse dann aber fast gefüllt ist und man die Fließgeschwindigkeit reduziert, tritt das unerwünschte Strömungsmuster auf – und es tropft.
Frieder Mugele
Industrielle Perfektion — etwa bei der Gestaltung der Tülle —, setzt aber auch praktische Erfahrungen voraus. Also fragen wir doch mal bei den Handwerkern, in diesem Fall den Töpfern nach. Im „kalkspatz e.V. – Keramikforum“ schreibt Hille über die Gestaltung ihrer Teekannen:
Ich mache darüberhinaus die Tülle oben sehr dünn und ziehe die untere Seite des Ausgusses nach unten. Ob du dir das jetzt vorstellen kannst? Jedenfalls so, dass der Sabbeltropfen erst nochmal wieder nach oben wandern müsste, wofür er normalerweise zu faul ist.
Hille, Keramikforum

Ein weiterer Trick ist es, ein kleines Loch in die Tülle machen. Das hat den Effekt, dass die restliche Flüssigkeit per Osmose wieder in die Kanne zurückfließt.
Wissenschaft und Design
Wie aber steht es nun mit dem Design, nachdem alles so wunderbar wissenschaftlich und genau untersucht ist. Wird es sich da nicht automatisch ergeben, wie die optimale Tülle auszusehen hat?
Zunächst ist die Frage danach, ob eine Kanne tropft oder nicht, ja nicht das einzige Gestaltungskriterium. Da lässt sich gleich ein ganzer Katalog entwickeln: Was soll ausgegossen werden, in welcher Menge, wie passt die Tülle zum Rest des Kruges, wie sieht ein guter Henkel aus — Spätestens da beginnt eine neue Untersuchung, werden eigene Experimente fällig.

Der Entwurfsprozess selbst kann von wissenschaftlichen Untersuchungen und einer gewissen Systematik im Vorgehen profitieren. Nicht nur an der HfG Ulm wurde das in den 1960er Jahren auf die Spitze getrieben: Die Hochschule und ihre theoretische Ausrichtung waren ein Teil des internationalen Design Methods Movement, das allerdings Ende der 1960er Jahre wieder an Bedeutung verlor.
Denn es zeigte sich eben doch, dass der kreative Prozess sich durch wissenschaftliche Untersuchungen zwar anregen, aber keineswegs steuern lässt. Und dass es neben dem klassischen, oft zitierten Gestaltungs-Kriterium der Funktion (form follows function) auch andere Dinge gibt, die den Entwurfsprozess beeinflussen. Selbst die Frage nach den Bedürfnissen der Verbraucher lässt sich noch in ein wissenschaftliches Kleid hüllen — durch die Auswertung der zahlreichen Umfragen, mit denen wir konfrontiert werden.
Doch was gute Gestaltung letztlich ausmacht, ob wir als Einzelne eine Kaffeekanne gerne besitzen, gerne anschauen und vielleicht auch gerne benutzen — das hängt nur zum Teil damit zusammen, ob sie auch wirklich nicht tropft und auch sonst gut funktioniert.

Bild 1
Kaffeekanne und Milchkännchen Arzberg 1382, Blaublüten. Hersteller: Arzberg, 1931. Entwurf: Hermann Gretsch
Tropfenfänger „Für die Party mit Pfiff“, Hersteller: Fackelmann, 1950er Jahre
Bild 2
Milchkrug: Steingutfabrik Staffel, Limburg
Bild 3
Französisches Hotelporzellan, aufgenommen 2018
Bild 4
Türkisene Kanne: Porzellanmanufaktur Gloria — Anton Weidl, Altrohlau in Tschechien (1920-1945)
Glaskanne: Element aus Vorratsgeschirr ‘Kubus’, Hersteller: Vereinigte Lausitzer Glaswerke AG in Weißwasser, Entwurf: Wilhelm Wagenfeld, 1938
Blaugestreifte Kanne: Hersteller: HB-Werkstätten für Keramik, Entwurf: Hedwig Bollhagen
Kanne mit rotem Rand: Bauscher-Weiden 1938, Entwurf Heinrich Löffelhardt
Kanne aus rotem Ton: Griechenland 2016
Bild 5
Tropfenfänger „Für die Party mit Pfiff“, Hersteller: Fackelmann, 1950er Jahre
Zitat Herwig: Heinz Herwig, Ach so ist das! 50 thermofluiddynamische Alltagsphänomene anschaulich und wissenschaftlich erklärt. Heidelberg (Springer) 2014
Zitat Mugele: Frieder Mugele, Was tun, wenn die Teekanne tropft? Benetzungseigenschaften auf mikroskopischer Skala bestimmen das makroskopische Strömungsverhalten. Physik Journal 9, 2010, S. 18.
Forum Kalkspatz: https://www.kalkspatz.de/, letzter Aufruf am 3.1.2019
Weiterführende Literatur: Christiane Wachsmann, Vom Bauhaus beflügelt. Menschen und Ideen an der Hochschule für Gestaltung Ulm, Stuttgart 2018, S. 199 ff.
Alle Fotografien: Christiane Wachsmann 2018