Sie folgte einem kleineren Fluß, der verträumt durch die Wiesen glitt. Die Landschaft glich einem Sommertheater, in der dunstigen Luft erschienen Büsche und Bäume wie Kulissen. Später im Jahr verlor die Sonne ihren scharfen Glanz, ihr Licht wurde inniger und wärmer. Nachts wurde es kühl. Wo würde sie bleiben, wenn der Winter kam? Christiane Wachsmann, Die Nixe
In der Literatur gibt es viele Schubladen für die verschiedenen Richtungen und Genres. Ich fühle mich im Magischen Realismus zuhause: Wunderbare, unheimliche Geschehnisse brechen in die scheinbar fest gefügte Alltagswelt meiner Protagonistinnen und Protagonisten ein und stellen die gewohnte Realität in Frage. Stellen überhaupt infrage: Was ist real? Das, was wissenschaftlich belegt werden kann? Was wir mit unseren Sinnen erfahren, die doch so leicht zu täuschen sind? Die Erzählungen, Überlieferungen, Mythen, an die wir glauben?
Magischer Realismus in der Bildenden Kunst
Der Begriff Magischer Realismus wurde in den 1920er Jahren von dem Kunstkritiker Franz Roh geprägt. Roh beschäftigte sich mit der Malerei der Neuer Sachlichkeit, der Rückkehr zum Gegenständlichen, scheinbar Realen – und gleichzeitig mit dem Surrealismus, der seine Bilderwelt aus dem Bereich der Träume und des Unwirklichen schöpft. Die Übergänge sind fließend, und irgendwo dazwischen ordnete er den magischen Realismus ein.
Der Maler Alexander Kanoldt (1881–1939) wird dieser Kunstrichtung zugeordnet. Das Bild „Im Eisacktal“ (oben) von 1911 zeigt eine Landschaft aus Fluss und Bergen, die gerade in ihrer Farbigkeit und einfachen Formensprache etwas Hintergründig-Magisches, schwer zu Benennendes ausstrahlt, das unsere Gefühle anrührt und die Fantasie anregt.
Oder Max Ernst (1891-1976): Er hat Kunstwerke wie etwa Capricorne geschaffen, die eindeutig in diese Richtung gehen.

Sprachbilder und die Verschiebung der Grenzen
Auch die Literatur arbeitet ja mit Bildern: Sprache dient nie allein der Mitteilung. Immer schwingen Gefühle, untergründige Botschaften, Interpretationen von Zuhörern, eigene Erfahrungen von Leserinnen mit.
Mir liegt daran, solche Bilder möglichst genau zu schildern, ohne dabei zu ausführlich zu werden. Der große Bogen, wenige Details, Andeutungen: Alles zusammen lässt – im besten Fall – ein Bild im Kopf meiner Leser*innen entstehen. Es kann sich von dem unterscheiden, was mir vorschwebte und steht doch im Einklang mit der Erzählung
Am unteren Ende der Furt gab es eine Stelle, wo das Wasser seicht und sanft dahinfloss, leise gurgelnd, kleine Strudel bildend, in denen sich Äste und Blätter verfingen. Eine große Weide tauchte ihre Zweige ins Wasser und gab einen ausreichend malerischen Hintergrund. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel. Es duftete nach dem frisch gemachten Heu der Uferwiesen, nach Mädesüß und fauligem Wasser. Dies war die richtige Zeit, der perfekt Ort.
Sah man mal von Herrn Hecht ab.
Reglos stand an der Seite, eine düstere Gestalt im schwarzen Gehrock, den Zylinder auf dem Kopf, und musterte das Treiben.
Christiane Wachsmann, Nora (Arbeitstitel), Anfang
Die Szene spielt Anfang der 1870er Jahre in Mitteldeutschland. Ein Fotograf ist zum Gasthaus am Fluss gekommen. An diesem sommerlichen Sonntag macht er Aufnahmen von den Gasthausbesuchern. Noch ist die Welt in Ordnung. Doch bald schon wird sich zeigen, dass die Kunst der Fotografie auch ihre magischen Seiten birgt, mit Geistern wie dem eitlen Kollides oder der aufstrebenden Gelatine, die ihre eigenen Ziele verfolgen.
Solche Übergänge zu schaffen, ist für mich Herausforderung und Befriedigung. Wie gelange ich aus der „realen“ in die „surreale“ Welt, wie erreiche ich den Schwebezustand, in dem sowohl das wirkliche Leben wie auch das Treiben der Geister seine Berechtigung hat? Wie gestalte ich einen solchen Text, ohne den Lesefluss zu hemmen, gar zu unterbrechen? Manchmal funktioniert es mit einem Sprung (Goldmarie, die sich in den Brunnen fallen lässt und in der Landschaft der Frau Holle erwacht). Manchmal ist aber gerade das sanfte Hinübergleiten interessant, der Wechsel zwischen den Welten mit ihren unterschiedlichen Gegebenheiten und Regeln, die es schreibend (und dann auch lesend) zu erforschen gilt.
In der Literaturgeschichte wird der Begriff Magischer Realismus erst seit den 1980er Jahren verwendet, gerne im Zusammenhang mit südamerikanischen Autoren wie Isabelle Allende (Das Geisterhaus) oder Gabriel Marcía Márquez (Hundert Jahre Einsamkeit).
In der deutschsprachigen Literatur gab es jedoch bereits in den 1920er Jahren Autoren, bei denen erlebte Wirklichkeit mit sagenhafte Begebenheiten zusammenfloss, etwa Leo Perutz oder Hermann Broch.
Und davor?
Hoffmanns Erzählungen
Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Romantiker begonnen, Sagen und Märchen zu sammeln und, angeregt von diesem Material, ihre eigenen Geschichten zu spinnen. Auch technische Errungenschaften und ihre Wirkungen auf die Menschen fanden darin Niederschlag: So schildert E. T. A. Hoffmann in seiner Erzählung Der Sandmann, wie sich Nathanael in die schöne Olimpia verliebt – ohne zu merken, dass es sich bei ihr um eine mechanische Puppe handelt, und darüber dem Wahnsinn verfällt.
Über Hoffmanns Geschichte liegt von Anfang an eine bedrohliche Atmosphäre. Und natürlich stellt sich die Frage, aktueller denn je: Was sind technische Errungenschaften anderes als eine besondere Art der Zauberei? Was bringen sie für Vorteile, wo bedrohen sie unsere Existenz? Darf man solche Erfindungen, logelöst von moralischen Überlegungen, der Gesellschaft ohne Warnung zumuten? (In diesem speziellen Fall der Festgesellschaft von Olimpias Erfinder, die sich später reichlich darüber empörte, von ihm genarrt worden zu sein.)
Fantastische Geschichten
Was genau also ist die Realität? Was ist Wahrheit und wo beginnt die menschliche Einbildungskraft, sich zu entfalten? Was ist Fantasie, was Wirklichkeit?
Im Roman wie im Film oder auf dem Theater ist die Unterscheidung stets relativ; wichtig sind allein die Erfahrungen und die Erkenntnisse, die wir für uns aus der Lektüre ziehen; die Fragen, die sich uns stellen.
Und wenn das Lesen dabei noch Spaß macht und uns ein Stück weit aus den Beschwernissen des Alltags entführt: Umso besser. Wir begeben uns auf die Reise, in ferne, sagenhafte, zukünftige Welten – oder in das Universum gleich nebenan, von dem wir bisher nicht mal ahnten, dass es überhaupt existiert.
Beitragsbild: Alexander Kanoldt (1881–1939), „Im Eisacktal“, Öl auf Leinwand, 1911. Das Originalbild gehört in den Bestand der Kunsthalle Emden.
